Mittwoch, 22. Juni 2011

Evermore 1 Leseprobe

E I N S
Wer ist das?«
Havens warme, feuchte Handl ächen pressen sich
fest auf meine Wangen, während der Rand ihres angelaufenen Silberrings eine Schmutzschliere auf meiner Haut hinterlässt. Und obwohl mir die Augen zugehalten werden und
sie geschlossen sind, weiß ich, dass ihr schwarz gefärbtes
Haar in der Mitte gescheitelt ist und dass sie ihr schwarzes
Vinylkorsett über einem Rollkragenpulli trägt (und sich so
an die Bekleidungsvorschriften unserer Schule hält). Dass
ihr brandneuer, bodenlanger schwarzer Satinrock schon ein
Loch hat, ganz unten am Saum, wo sie mit der Spitze ihrer
Springerstiefel darin hängen geblieben ist. Und dass ihre
Augen scheinbar golden sind, doch das kommt nur daher,
weil sie gelbe Kontaktlinsen trägt.
Außerdem weiß ich, dass ihr Dad gar nicht auf »Geschäftsreise« ist, wie er behauptet hat, dass der Personal
Trainer ihrer Mom sehr viel mehr »Personal« als »Trainer«
ist und dass ihr kleiner Bruder ihre Evanescence-CD kaputt
gemacht hat, sich aber nicht traut, es ihr zu sagen.
Aber all das weiß ich nicht, weil ich ihr nachspioniere oder
sie heimlich beobachte, auch nicht, weil sie es mir erzählt
hat. Ich weiß es, weil ich hellsehen kann.
»Na los! Es klingelt gleich!«, drängt sie; ihre Stimme ist
heiser und kratzig, als würde sie eine ganze Packung am Tag
rauchen, dabei hat sie es nur ein einziges Mal probiert.


Ich spiele auf Zeit, überlege, mit wem sie am allerwenigsten verwechselt werden möchte. »Hilary Duff?«
»Iiih! Noch mal!« Sie drückt fester und hat keine Ahnung,
dass ich nichts zu sehen brauche, um Bescheid zu wissen.
»Mrs. Marylin Manson?«
Sie lacht und lässt mich los, dann leckt sie an ihrem Daumen und zielt auf die Schmutzschliere, die ihr Silberring auf
meiner Wange hinterlassen hat, doch ich hebe die Hand und
bin schneller. Nicht, weil ich mich beim Gedanken an ihre
Spucke ekle (ich meine, ich weiß, dass sie gesund ist), sondern weil ich nicht will, dass sie mich noch einmal anfasst.
Berührungen sind zu verräterisch, zu anstrengend, also versuche ich, sie um jeden Preis zu vermeiden.
Sie packt die Kapuze meines Sweatshirts und schlägt sie
zurück, dann betrachtet sie blinzelnd meine Ohrknöpfe und
fragt: »Was hörst du denn da?«
Ich greife in die iPod-Tasche, die ich in alle meine Kapuzenpullover eingenäht habe, um die allgegenwärtigen wei-
ßen Kabel vor den Augen der Lehrer zu verbergen. Dann
reiche ich ihr den iPod und sehe zu, wie ihr fast die Augen
aus dem Kopf quellen, als sie hervorstößt: »Was ist das denn?
Ich meine, geht’s überhaupt noch lauter? Und wer ist das?«
Sie lässt den Player zwischen uns baumeln, so dass wir
beide hören können, wie Johnny Rotten etwas von Anarchie
in England brüllt. Und die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob
Johnny dafür oder dagegen ist. Ich weiß nur, dass er beinahe
laut genug ist, um meine übermäßig geschärften Sinne abzustumpfen.
»Sex Pistols«, antworte ich, schalte den iPod aus und stecke ihn wieder in seine Geheimtasche.
»Wundert mich ja, dass du mich überhaupt hören konntest.« Sie lächelt im selben Moment, als die Klingel ertönt

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